Stefan Wolter, Sie sind seit 2006 federführend bei der Erarbeitung des Bildungsberichtes, der alle vier Jahre erscheint und das Schweizer Bildungssystem unter die Lupe nimmt. Wie hat sich die Berufsbildung in dieser Zeit verändert?
Mit dem Bildungsbericht analysieren wir Makrotendenzen, wie die Verschiebungen zwischen den Bildungstypen Gymnasium, Fachmittelschule und berufliche Grundbildung oder beispielsweise den Trend zu mehr tertiärer Bildung, insbesondere bei Personen, die zuvor eine Berufslehre absolviert haben. Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Denn die Berufsbildung befindet sich in einem permanenten Wandel, wenn man sich die hohe Reformdichte in den einzelnen Berufsbildern anschaut. Auch wenn solche Reformen von den Beteiligten immer viel abverlangen, zeigen sie doch deutlich, dass sich die Berufsbildung nicht auf ihren Lorbeeren ausruht.
Gesellschaftliche oder technische Entwicklungen verändern die Arbeitswelt laufend. Aktuell sorgen künstliche Intelligenzen für viel Aufsehen. Welche Auswirkungen wird KI auf die Berufsbildung und auf die Berufswahl junger Menschen haben?
Es ist unmöglich, hier eine abschliessende Antwort zu geben, da diese Entwicklungen in einem noch nie dagewesenen Tempo voranschreiten. Wer hätte im Sommer 2022, wenige Wochen vor der Lancierung von ChatGPT, gedacht, dass ein Jahr später mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II wöchentlich in der Schule mit künstlicher Intelligenz arbeiten würden? Wir konnten jedoch messen, dass diese Instrumente der künstlichen Intelligenz bei den Jugendlichen – und nicht nur bei ihnen – eine grosse Verunsicherung auslösten und sie sich instinktiv eher für handwerkliche Berufe interessierten, die von der künstlichen Intelligenz weniger bedroht sind.
Die Berufswelt befindet sich auch hinsichtlich der Geschlechterrollen im Wandel. Heute wird immer wieder versucht, Jugendlichen Berufe schmackhaft zu machen, die eher mit dem anderen Geschlecht in Verbindung gebracht werden. Wie erfolgreich sind diese Bemühungen?
Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Betrachtet man die tatsächlichen Entscheidungen der Jugendlichen, so zeigt sich, dass die Berufswahl in den letzten 15 Jahren nur marginal weniger geschlechtsspezifisch geworden ist. Mit Ausnahme der kaufmännischen Grundbildung finden sich unter den am häufigsten gewählten Lehrberu- fen sowohl bei den jungen Männern als auch bei den jungen Frauen nach wie vor mehrheitlich geschlechtsstereotype Berufe.
Welchen Einfluss haben Eltern auf die geschlechtsspezifische Berufswahl ihrer Kinder?
Die Eltern haben nach wie vor einen sehr grossen Einfluss auf die Berufswahl der Jugendlichen. Kürzlich sind wir der Frage nachgegangen, ob Eltern ihre Kinder in geschlechterstereotype Berufe drängen. Das Ergebnis unserer Forschung ist, dass sowohl Väter als auch Mütter bei der Berufswahl ihrer Töchter sehr offen sind und keine Tendenz zu geschlechtsspezifischen Berufen zeigen. Bei den Söhnen ist das anders: Väter und Mütter tendieren stark dazu, ihnen zu Berufen zu raten, die eher von Männern gewählt werden.
Nach dem Abschluss einer beruflichen Grundbildung stehen in der Schweiz sämtliche Türen zu weiterführenden Bildungsan geboten offen. Trotzdem glauben viele Eltern, dass ihre Kinder nur auf dem akademischen Weg Karriere machen können.
Solche Eltern gibt es leider immer noch. Die Möglichkeiten junger Menschen im tertiären Bildungsbereich hängen einzig und allein von ihrem Talent und ihrer Motivation ab, und nicht davon, welchen Bildungsweg sie nach der obligatorischen Schulzeit gewählt haben. Ich begegne in meinem Berufsalltag immer wieder beruflich und akademisch erfolgreichen Kolleginnen und Kollegen, die mit einer Berufslehre ins Erwerbsleben gestartet sind.